Bioboom beim Bäcker?

Wie Biogroßbäckereien traditionellen Backstuben Konkurrenz machen.

"Tim Oerter" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)
„Tim Oerter“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Es ist 4.00 Uhr am Morgen, vor dem Fenster weicht die Dunkelheit nur langsam dem anbrechenden Tag. In der Backstube spiegelt sich das Licht der Neonröhren im Trichter des Teigportionierers. Es riecht nach Sauerteig und frisch gebackenem Brot, Mehlstaub kitzelt in der Nase. Eine Kentmaschiene surrt leise im Hintergrund, hin und wieder piept der Backschrank. Die Bäcker arbeiten schweigend. Nur Robert Haverkamp gibt leise Anweisungen. „Mir fehlen hier noch 40 Gramm“, und „Sind die Kastenformen schon gefettet? Heute sind dreißig Moorkörner bestellt“.

Er ist Bäckermeister und Inhaber der Backstube am Mühlenberg, dem typischen Bild eines wohlgenährten Bäckers entspricht er nicht. Groß gewachsen und beinahe hager steht er neben dem Teigportionierer und prüft dessen Füllstand. Vor 27 Jahren hat Haverkamp seine erste Backstube eröffnet. Obwohl seine Eltern als konventionelle Bäcker gearbeitet haben, entschied er sich für die Inbetriebnahme einer Biobäckerei. Bio bedeutet für ihn nicht nur ökologisch angebautes Getreide, sondern vor allem Handarbeit. In der Backstube gibt es deshalb nur wenig Maschinen: drei Rührmaschinen, ein Küchengerät und ein Teigportionierer erleichtern das Tagewerk. Alle anderen Arbeiten, wie Brot formen und Kuchenböden vorbereiten, erledigen die Mitarbeiter per Hand und im Stehen. Nach einem Stuhl oder einer Bank sucht man vergeblich im Backraum. Regale voller Bleche, Kastenformen, Rührgeräte in verschiedenen Größen und Rohzutaten haben auch die letzte freie Stelle an der Wand eingenommen. Gegenüber stapeln sich Papiersäcke mit dem orangen demeter-Logo.

Dieses Gütesiegel gibt es bereits seit über 20 Jahren. Es steht für ökologisch-dynamische Landwirtschaft, die auf den Impuls des Waldorfpädagogen Rudolf Steiner zurückgeht. Laut eigener Angabe möchte demeter mehr als ein einfaches Biosiegel sein. Deshalb sind die Auflagen auch strenger. Ein Bauer muss in jedem Fall Tiere halten, auch dann, wenn er Getreide verkauft. Düngen darf er die Saat nur mit einer Mischung aus Kräutern, Kiesel und Kuhfladen. Die Backstube am Mühlenberg ist von diesem Konzept überzeugt. Sie gehen sogar noch weiter und geben nur regional verarbeitetes Mehl in ihren Teig. Besonders stolz ist Haverkamp auf den Sauerteig: „Wir geben keine künstlichen Gärstoffe zu und lassen der Masse genug Zeit zum Reifen. So hat sie nach jedem Arbeitsgang Zeit für die Aromen- und Krumenbildung.“

Längst ist es nicht mehr in allen Bäckereien üblich, den Teig selbst anzurühren. Backmischungen aus der Tüte stoßen nicht nur in den heimischen Küche immer häufiger auf Beliebtheit. Auch in Bäckereibetrieben werden sie öfter verwendet – aus Kostengründen. „Eigentlich sind die Bäcker auch nur Opfer der Großen“, merkt Haverkamp an. Bitterkeit schwingt in diesem Satz mit. Denn in der Biobranche wird die Konkurrenz zu den großen Betrieben seit einigen Jahren ebenfalls spürbar. „Seit etwa 5 Jahren muss man in der Bioszene über Preise reden. Wir spüren den Bioboom, nur rückwärts“, bemerkt auch seine Lebensgefährtin, Frau Holthausen, mit Blick auf die Umsatzzahlen, „jetzt geht es um Masse und das günstigste Angebot.“ Das haben meistens die Großbetriebe, die mit Kühlung und Schichtarbeit auftrumpfen.Die Tagesschicht bereitet die Teigrohlinge. Diese sind in etwa mit den Aufbackbrötchen aus dem Supermarkt zu vergleichen und werden in großen Kühlschränken gelagert. Die Nachtschicht ist hauptsächlich mit dem Aufbacken der Rohlinge beschäftigt. Wer auf diese Art Massenware produziert, kann den Preis drücken. So kostet ein Brötchen bei einer bekannten Backkette 0,19 Euro. Für das Biobrötchen muss man deutlich mehr Geld ausgeben. Etwa 60 Cent bezahlt der Käufer für ein solches. „Lange Zeit war der Biomarkt einer solchen Konkurrenz nicht ausgesetzt“, weiß Frau Holthausen zu berichten. Erst mit dem Bio-Boom der letzten Jahre änderte sich etwas bei den Biobetrieben. Waren Backstuben mit Bioprodukten lange kleine Nischenbetriebe, wächst seit 2007 die Nachfrage nach eben dieser Ware stetig an. Gesund, natürlich, ein „richtiges“ Brot – mit diesen Schlagwörtern verbinden viele Deutschen Bioartikel, die es zunächst nur im Reformhaus zu kaufen gab. Um sich selbst „etwas Gutes zu tun“, wie es eine Kundin beschreibt, sind sie bereit, etwas mehr Geld für etwas mehr Qualität zu bezahlen.

Der Trend hat sich fortgesetzt. Heute werden Biobrote und Co. nicht mehr nur in Reformhäusern verkauft. Supermarktketten eröffnen, die ausschließlich Naturprodukte verkaufen und der Discounter an der Ecke bietet Ware mit Ökosiegel an. Nur zum Schein vergrößert sich so der Absatzmarkt der kleinen Betriebe. Ihnen fehlen oft die Kapazitäten, um die angefragten Mengen zu produzieren. Gleichzeitig spezialisieren sich Großbetriebe auf Biowaren. Auch sie verarbeiten dann zertifiziertes Getreide, nutzen aber zur gleichen Zeit Maschinen und Kühlung. „Wenn wir da mithalten wollten, müssten wir hier im 12 Uhr nachts beginnen. Und mehr Mitarbeiter bräuchten wir auch. Der nächste Schritt wäre dann die Kühlung. Aber ist das noch Bio?“ Mit einem Kopfschütteln scheint Frau Holthausen ihre Frage selbst zu beantworten. „Das macht auch was mit den Menschen.“ Menschen sind der gelernten Lehrerin wichtig. Die Mitarbeiter kennt sie mit Namen, man duzt sich, fragt nach der Familie. Die Backstube liegt direkt neben einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen. Eine Mitarbeiterin kommt von dort. Sie ist froh, dass sie hier arbeiten kann, sagt sie. Es sei eine „richtige Arbeit“, im Gegensatz zu jener, die in den Behindertenwerkstätten verrichtet wird.

Draußen wird es langsam hell. Ein reetgedecktes Haus zeichnet sich zwischen den Feldern ab. In der Backstube stapeln sich gelbe Kisten, in einer halben Stunde beginnt die Auslieferung an Reformhäuser und Hofcafés. Robert Haverkamp legt zwei Brote in eine Kiste und streicht die letzte Zeile auf seiner Liste durch. Für heute ist sein Arbeitstag beendet. Morgen wird der Bäckermeister wieder ab 1.00 Uhr in der Backstube stehen und sein gesundes Brot backen. Das Brot in dem viel Handarbeit steckt und das er mit gutem Gewissen verkaufen will – so lange es eben noch geht.

Jeden Tag die Welt ein bisschen besser machen

Bei einem meiner Streifzüge durch die hiesigen Buchhandlungen fiel mir ein Buch mit dem Titel „1000 Ideen täglich die Welt zu verbessern“ in die Hand. 1000 Ideen – ganz schön ambitioniert. Die Welt jeden Tag ein bisschen besser zu machen hingegen ist eine schöne Idee. Man hat dann das Gefühl, selbst etwas verändern zu können. Und irgendwie ist es doch auch toll, etwas für andere zu tun. Eine solche Besser-mach-Aktion kann überall statt finden – in der Familie, für die Umwelt, in der Stadt … Dabei muss es sich nicht mal um große Gesten handeln und viel Zeit braucht es auch nicht. Inspiriert durch das Buch möchte ich einige Ideen vorstellen, mit denen man ganz einfach ein Stück mehr Menschlichkeit in die Welt bringen könnte.

„Viola Rudolf“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc) http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/deed.de

Internationale Politik beeinflussen

Der kleine Mann ist machtlos gegen den Mächtigen dieser Welt. Wer diese Annahme bestätigen kann, scheint der Resigantionsgrenze schon sehr nah zu sein. Tatsächlich ist es schwer, Entscheidungen über die kommunalen Grenzen hinaus zu beeinflussen. Trotzdem kann man mit einem einfachen Klick ein kleines Zeichen setzen. In Zeiten der „Neuen Medien“ wird es immer einfacher per Internet Petitionen und Briefe an Entscheidungsträger zu unterzeichnen. Avaaz ist wohl die größte Webside, die sich diesem Anliegen verpflichtet hat. Avaaz bedeutet „Stimme“ auf vielen Ostasiatischen Sprachen. Den Bürgern eine Stimme geben ist auch das Ziel dieser Organisation. Themen wie Klimaschutz, Menschenrechte und die Vermeidung von Armut und Krieg betreffen alle Menschen direkte. Deshalb sollen auch alle mitentscheiden dürfen. Demokratie bedeutet Beteiligung aller Menschen.

Wasser und Geld sparen

Die Produktion eines T-Shirts verbraucht 2000 Liter Wasser – eine unglaubliche Vorstellung. Wie wäre es also diesen Sommer ein T-Shirt weniger zu kaufen? Statt dessen spart man sich das Geld lieber für einen erfrischenden Eisbecher. (Aus 1000 Ideen täglich die Welt zu verbessern – rowohlt Verlag)

Wild pflanzen

Diese Idee bewegt sich an der Grenze zum Illegalen, das vorweg genommen. Viele Ecken in der Stadt sind wirklich hässlich. Da ist ein abgetretender Grünstreifen mit mehr Erde als Gras. Die Verkehrsinsel soll betoniert werden und um die Rasenfläche hinter dem Einkaufszentrum hat sich auch schon lange niemand mehr gekümmert. Warum also nicht ein paar günstige Blumenzwiebeln kaufen und bei Nacht und Nebel einpflanzen. Die Blumen sind nicht nur schön anzusehen sondern lassen die Natur ein Stück Stadt zurückerobern.

Einen Zwei-Euro-Club gründen

Alleine spenden macht weniger Spaß als in einer Gruppe etwas Gutes zu tun. Der Zwei-Euro-Club verpflichtet sich hin und wieder auf die Tasse Kaffee (zum Preis von 2 Euro) zu verzichten. Statt dessen wird das Geld gesammelt. Ist ein akzeptabler Betrag zusammen gekommen, kann das Geld nach Belieb gespendet werden. (Aus 1000 Ideen täglich die Welt zu verbessern – rowohlt Verlag)

Umjubelt in die Opposition

Schlechtestes Ergebnis in der Parteigeschichte und überwältigende Zustimmung für den Spitzenkandidaten – die SPD-Anhänger im Willy-Brandt-Haus hoffen auf Niedersachsen und eine Neuausrichtung der Partei. Währenddessen dominiert die AfD auch nach dem Wahlkampf den Diskurs der SPD.

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Noch größer als das Entsetzen über das eigene Wahlergebnis, scheint die starke AfD hervorzurufen. Als um 18 Uhr die ersten Hochrechnungen die SPDler erreicht, schlagen viele Gäste bereits die Hände vor den Mund, als der CDU nur 33 Prozent prognostiziert werden. Die 20 Prozent der SPD senken die ohnehin schon bleiernde Stimmung kaum.  Erst die 13,9 Prozent für die AfD lassen ein Raunen durch das Willy-Brandt-Haus gehen. Danach herrscht mehrere Sekunden lang betretende Stille. “Darauf kann man nur noch Schnaps trinken”, lautet schließlich einer der ersten Reaktionen. Auf die Frage, welcher Schock denn nun der größere sei, wissen viele Sozialdemokraten kurz nach 18 Uhr noch keine rechte Antwort. “Beides ist erschreckend”, die Antwort einer Mitarbeitern des Arbeitsministeriums zählt noch zu den konkreteren Äußerungen. Drastischer formuliert es ihr Nebenmann. Er sei geschockt, das Wahlergebnis sei niedriger, als befürchtet. Auch das schlechte Abschneiden der Unionspartei mache ihm Angst. Nur wenige zeigen sich optimistisch. So will eine junge SPDlerin noch nicht alle Hoffnung aufgeben: “Das sind ja alles nur Prognosen. Eine ersten Hochrechnungen kommen ja erst noch und da sollte die SPD stärker sein.” Bis zu 2,5 Prozent mehr seien ihr zur Folge noch möglich.

Toleranz, Gemeinsinn und Respekt

20 Prozent, das historisch schlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten. Woran es denn nun gelegen habe – diese Frage steht fast greifbar im Raum. Die meisten SPDler sind sich sicher: Martin Schulz ist es jedenfalls nicht. Auf ihren Spitzenkandidaten lassen die Genossen nichts kommen. Minutenlange Martin, Martin-Chöre schallen durch das Willy-Brandt-Haus als der Kanzlerkandidat das Podium betritt. Drei Mal muss der Spitzenkandidat ansetzen, bevor er sich Gehör verschaffen kann. Es scheint, als wollen die Sozialdemokraten zeigen: Wir stehen hinter dir – trotz schlechtem Ergebnis. Wir sprechen dich frei von jeder Schuld am schlechten Abschneiden der SPD.

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Frenetischer Jubel, als der ehemalige Parlament des EU-Präsident verkündet, die SPD als Vorsitzender auf einen Kurs der Rückbesinnung auf Toleranz, Respekt und Gemeinsinn zu führen. Gerechtigkeit nennt Schulz nicht, als er die sozialdemokratischen Werte hochhält. Auffällig deutlich umschifft er das Schlagwort seiner Wahlkampfkampagne, für das er oft kritisiert worden ist. Zu blass und allgemeingültig wirke der Begriff, hieß es auch aus den Reihen der SPD. Das Wahlergebnis wolle er nun “offen und ehrlich” mit der Parteibasis analysieren und sich dafür “genügend Zeit nehmen”. Auf eine solche Neuausrichtung hoffen auch die Mitglieder der Partei: “Die Opposition gibt uns Zeit, die Pragmatik zu erneuern. Wir müssen die frühere Probleme überwinden und vor allem Theme wie die Pflege stärker in den Fokus stellen.” Auch der Wunsch, alte Erfolge endlich für sich selbst verbuchen zu können, wird im Laufe des Abends immer lauter: “Die SPD hat alle Erfolge an die CDU abgegeben. Schon seit den Hartz-IV-Reformen ist das so. Wir hätten sagen sollen: Gut, das ist so gelaufen, aber die geringe Arbeitslosigkeit haben wir der Reform zu verdanken und eben nicht Merkel.”

Schulz empfiehlt Gang in die Opposition

Umringt vom sozialdemokratischen Spitzenpersonal, das mit betretenden Mienen zu Schulz Rede beiträgt, schafft der es, die richtigen Worte zu finden. Den “Nie-wieder-Mutti”- und “Schluss-mit-der-GroKo”-Schilderträgern verspricht er: “Mit dem heutigen Tag endet die Zusammenarbeit mit der CDU. Ich bin angetreten, um Kanzler zu werden. Daher ist es gut und richtig, dass ich der Partei heute Abend empfohlen habe, in die Opposition zu gehen.” Erneuter Jubel und Applaus. Das schlechte Wahlergebnis wird hinter vorgehaltener Hand als Segen bezeichnet. Endlich besinne sich die Partei zurück auf ihre sozialen Wurzeln. Wie gut und richtig diese Empfehlung wirklich ist, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Nicht nur Angela Merkel kritisiert die kategorische Absage an eine erneute Regierungszusammenarbeit. Auch innerhalb der SPD-Basis haben viele Mitglieder auf die angekündigte Abstimmung gesetzt. “Die Basis anzuhören, das ist der richtige Weg”, hieß es unmittelbar vor Schulz Auftritt. Doch zum zweiten Mal lassen die Sozialdemokraten nichts auf ihren Martin kommen. “Seine Empfehlung wird dem Wahlergebnis der Basis entsprechen”, zeigt sich die junge SPDlerin überzeugt, die kurz zuvor noch auf eine Abstimmung innerhalb der Partei setzen wollte.

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AfD dominiert auch nach der Wahl

Neben den beiden wichtigsten Fragen nach Opposition und Parteiführung räumt Schulz der AfD den größten Raum seiner Rede ein. “Besonders erdrückend für uns ist die Stärke der AfD. Das ist eine Zäsur. Zum erstem Mal seit dem zweiten Weltkrieg zieht heute eine rechtsextreme Partei in Fraktionsstärke in den Bundestag ein.” Damit setzt er einen Trend fort, der sich bereits im Wahlkampf abgezeichnet hat: Die AfD setzt die Themen, die großen Partein springen entsetzt auf den Zug auf, indem sie gegen die Partei argumentieren. So ist es wenig verwunderlich, dass Schulz zum Ende seiner Rede ein Statement gegen Rechts setzt: “Wir werden mit Vehemenz und Leidenschaft gegen die AfD vorgehen. Wir sind das Bollwerk der Demokratie gegen die rechte Fratze.”

 

„Der Wahl-o-mat vereinfacht genau so, wie er soll“

Kindergeld nur für Deutsche, Banken in staatlicher Hand oder den Einsatz der Bundeswehr im Inneren – die Wahlentscheidung zwischen Themen, Parteien und Inhalten fällt nicht leicht. Seit 15 Jahren hilft der Wahl-o-mat der Bundeszentrale für politische Bildung beim Parteienvergleich. Wie aus Wahlprogrammen Thesen werden und warum weder Russland noch Erdogan im Wahl-o-maten auftauchen, erklärt Jungredaktuer Jimmy Dögerl im Hintergrundgespräch.

Bonn im Frühjahr: 26 junge Menschen aus der gesamten Bundesrepublik treffen sich, um die wohl bekannteste Wahlhilfe Deutschlands vorzubereiten. „Die einzelnen Parteipositionen sind in unseren Diskussionen nicht relevant gewesen“, erinnert sich Jimmy Dögerl an das erste Treffen der Jugendredaktion im Frühjahr zurück. Statt um politische Diskussion ging es darum, die bedeutensten Themen herauszufiltern. 33 Wahlprogramme haben sie dafür gelesen, denn auch Kleinsparteien können im Wahl-o-maten mit den etablierten Kräften verglichen werden. „Wirklich überrascht haben mit die Programme der kleinen Parteien“, so Dögerl, „die Grauen begründen zum Beispiel ihr Wahlalter ab 14 damit, dass man von da an strafmündig ist. Man soll über die Gesetze, unter die man fällt, auch entscheiden dürfen. Das fand ich eigentlich ganz schlüssig.“ Die CDU stellte eine besondere Herausforderung dar. „Das Wahlprogramm der CDU war im Frühjahr noch gar nicht veröffentlicht, da mussten wir ein bisschen raten. Wenn zum Beispiel Sicherheit auf den Wahlplakaten steht, wird das wohl auch ein wichtiges Thema für die Partei sein.“

Weder China, noch die USA

Aus den Recherchen entstanden etwa 200 Thesen, die überarbeitet von Journalisten und Politikwissenschaftlern, den Parteien vorgelegt worden sind. Um die inhaltlichen Positionen kümmerten sich also die Parteien selbst. „Aus den Antworten haben wir bei einem zweiten Treffen die finalen 38 Thesen ausgesucht“, erklärt Dögerl. Daher steht eine These meist für einen ganzen Themenbereich: „Die Krankenkassenthese deckt nun alles ab, was mit Gesundheit zu tun hat – ist in der Realität natürlich nicht so.“ Dögerl selbst hat an den Thesen zur Außenpolitik gerarbeitet. In der Endversion fehlen einige seine Lieblingsthemen: „Es ist kein Russland, kein China, keine Türkei und keine USA drin – da war ich schon überrascht“. Ist das Thema zu kompliziert, sinkt die Chance auf den Einzug in die fertige Software. Dögerl gibt zu: „Sanktionen für Russland kann man ehrlich gesagt schwer in einer eindeutigen These formulieren.“ Stimmen alle Parteien einer Aussage zu oder lehnen sie gemeinschaftlich ab, fällt diese These ebenfalls raus. Stehen alle großen Parteien einer Aussage neutral gegenüber, ist auch das ein Löschungsgrund. „Wir sind da sehr vorsichtig. Möglicherweise war die These schlecht formuliert“; erklärt der Jugendredakteur.

Terrorismus klingt dramatisch, soziales positiv

Um die Formulierungen dreht sich der größte Teil der Diskussionen. Zur Hälfte müssen die Thesen einem eher rechten Spektrum zugeordnet werden können. Zur anderen Hälfte dem linken. Die User müssen die Thesen verstehen können, Fachjargon wie europäische Integration müssen zu europäischer Zusammenarbeit umformuliert werden. Gleichzeitig darf die Sprache aber nicht zu einfach sein.  „Manche Wörter sind emotional aufgeladen“, ergänzt Dögerl, „bei Terrorismus denken viele, dass das schlimm ist und man etwas dagegen tun muss. Soziales wird eher positiv bewertet.“

„Für die Wahlentscheidung ist jeder selbst verantwortlich“

Trotz aller sprachlichen Sorgfalt stehen die Thesen regelmäßig in der Kritik. Zu stark werden die politischen Inhalte vereinfacht, so die Kritiker. Komplexe politische Themen könne man nicht in einen Satz fassen. Einfache Ja-Nein-Antworten ersetzen keine politische Entscheidung. Die Kritik wirkt umso schwerer, als dass der Wahl-o-mat für viele User mehr ist, als ein einfacher Parteienvergleich und Wahlentscheidungen beeinflussen kann. Auch Jimmy Dögerl kennt die Argumente der Kritike. Dennoch ist er vom Wahl-o-maten überzeugt: „Der Wahl-o-mat vereinfacht nicht zu sehr, sondern genau so, wie er soll. Außerdem: In einer Demokratie ist jeder selbst für seine Wahlentscheidung verantwortlich und auch für die Faktoren, von denen er eine Entscheidung abhängig macht.“ Trotzdem sieht er im Projekt Wahl-o-mat großes Potential. „Wenn die Parteien auf die Thesen antworten, müssen sie sich positionieren. Die AfD hat sich zum Beispiel positiv zur These positioniert, dass der Holocaust Teil der deutschen Erinnerungskultur sein sollte – zumindest mit Einschränkungen in der schriftlichen Ausführung.“ Und auch auf der persönlichen Ebene hat der Student dazugewonnen: „Es ist erstaunlich, wie sachlich man über Politik reden könnte.“

Knapp 13 Millionen Menschen haben sich bisher mit Hilfe des Wahl-o-maten der Bundeszentrale für politische Bildung über die Parteien und ihren programmatischen Inhalten informiert. Mit dem größten Aufkommen rechnet Jugendredakteur Jimmy Dögerl aber erst am Wahlwochende. „Viele Wähler entscheiden sich erst kurz vor dem Gang in die Wahlkabine dafür, wo sie ihr Kreuz machen“, so der Politikstudent. Dementsprechend hoch seine die Anfragen kurz vor dem Wahltag. Der Nutzerrekord der vergangenen Bundestagswahl wurde bereits geknackt.

Dieser Text ist im Rahmen des Bundestagswahlreportageseminar der Jungen Presse Niedersachsen entstanden und erscheint in deren Zeitschrift „Das Journal“.

 

 

Noteninflation – Zwischen Leistungsdruck und Selbstselektion

Kommentar

"Fritz Schumann" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)
„Fritz Schumann“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)

80 Prozent der Studenten verlassen die Deutschen Unis mit der Note sehr gut oder gut. An diesen Zahlen ist wenig zu rütteln. Wer das bloße Ergebnis jedoch zum Anlass nimmt nach härterer Benotung zu rufen, verkennt den Mechanismus hinter den immer besseren Noten. Gute  Noten müssen nämlich nicht per se mit lascher Bewertung zusammen hängen. Der Bewertungsspielraum bei Klausuren ist  sehr eng gesteckt. Hier zählen die richtig beantworteten Fragen. Je nach erreichtem Prozentanteil werden dann die Noten vergeben, die Prozentsätze sind für alle Klausuren über alle Fächer annähernd gleich. Hinzukommt dass viele Klausuren zum großen Teil aus Multiple-choice-Fragen bestehen. Von einer großzügigen Auslegen von Antworten kann nicht die Rede sein, von einem aufgeweichten Bewertungssystem ebenfalls nicht.  Jeder Student schreibt durchschnittlich drei bis vier Klausuren pro Semester. In einigen Fächern wie Medizin und Wirtschaftswissenschaften liegt der Durchschnitt noch höher.  Ein großer Teil der Bachlor-Note setzt sich also aus Klausurennoten zusammen.

"Patrick Wolfrom" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)
„Patrick Wolfrom“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Warum aber schneiden Studenten in Klausuren vermeintlich so gut ab? Die Antwort liegt in der Selbstselektion der Studenten. Um überhaupt studieren zu können, muss der NC erreicht werden. In den letzten Jahren wurden, angesichts von Doppeljahrgängen und Abschaffung der Wehrpflicht , immer mehr Studiengänge mit Zulassungsbeschränkungen versehen. Generell stiegen die NC-Werte in Deutschland an. Sprich: Nur sehr gute Schüler nehmen ein Studium auf und bringen auch weiterhin gute Leistungen. Das Filtersystem setzt sich dann an der Uni fort. Wer dreimal durchfällt, wird exmatrikuliert und kann sein Fach an keiner anderen Uni mehr studieren. Damit fällt er oder sie aus der Noteninflationsstatistik heraus. Aber auch wer nicht dreimal an der Klausur gescheitert ist, bricht sein Studium manchmal ab. Sei es, weil fünf Klausuren mit einer 4,0 im Abschlusszeugnis nicht so gut aussehen oder der Studiendruck zu groß wird. 28 % der Studierenden haben laut Hochschulinformationssystem ihr Studium im Jahr 2010 abgebrochen. Bis zum Bachlor- oder Masterabschluss schaffen es also nur die Besten. Die haben dann, erwartungsgemäß, auch die besseren Noten.  Statt über den Verfall des Bewertungssystems zu diskutieren, sollte Politik und Wissenschaft lieber über Abbrecherquoten und Leistungsdruck an den Universitäten nachdenken. Das sind die tatsächlichen Probleme, die sich hinter dem vermeintlichen Bewertungsverfall verstecken. Von einer Noteninflation jedenfalls sind die deutschen Universitäten weit entfernt.

Dieser Kommentar erschien im Freien Unimagazin Scheinwerfer.

Ändert das Völkerrecht

Kommentar

Das Völkerrecht ist so veraltet, dass es die Vereinten Nationen (UN) blockiert. Konflikte zwischen zwei Staaten kann es lösen, für Auseinandersetzungen wie jene in Syrien ist es unbrauchbar.

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„Stefan Steinacker“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)

Seit zwei Jahren herrscht dort Bürgerkrieg. Die internationale Gemeinschaft konnte ihn bisher nicht beenden. Doch das liegt weniger am Unwillen der UN, als an den Lücken in der internationalen Gesetzgebung. Das Beispiel Syrien führt der Weltgemeinschaft vor, wie schwach ihre Rechtsgrundlage tatsächlich ist.

Zunächst sind da das Vetorecht und Russland. Das Land kann im Weltsicherheitsrat Entscheidungen der UN blockieren. Ein einfaches „Nein“ reicht aus. Im Fall Syrien bedeutet das ein „Nein“ zum militärischen Eingriff – aus wirtschaftlichen Gründen. Das größte Land der Welt möchte den Handelspartner und Verbündeten Syrien nicht verärgern. Deshalb nimmt es Bürgerkrieg und einen autoritären Herrscher in Kauf. Möglich macht es das Völkerrecht. Es garantiert jedem ständigen Mitglied des Weltsicherheitsrates das Blockaderecht, ohne das ein Veto begründet werden muss. Eine logische Erklärung für den Privileg gibt nicht. Geändert werden soll aber nichts. Das könnten nur die Vetomächte selbst. Aber einmal erlangte Macht geben die nur ungern wieder ab.

Doch Blockaden sind nicht das einzige Problem. Das Völkerrecht stammt aus einer Zeit, in der der zweite Weltkrieg gerade zuende war. Vom Konflikt bis zum tatsächlichen Angriff regelt das internationale Recht deshalb alles – so lange daran ausschließlich Staaten beteiligt sind. Wie die UN aber mit den syrischen Rebellen umgehen müssen, wissen sie bis heute nicht genau. Die Aufständischen können nicht Assads Syrien zugeordnet werden. Schließlich bekämpfen sie den Machthaber. Sie sind aber auch kein eigenes Land, dem man Regeln auferlegen könnte. Die syrische Opposition fällt schlicht durch das Raster der UN. Kein Gesetzt regelt den Umgang mit Rebellen. Der Weltgemeinschaft bleibt nur eines, sie muss sich auf eine gemeinsame Linie einigen. Doch solche Verhandlungen kosten Zeit. Zeit, die die Menschen in Syrien nicht haben.

"Okan Bellikli" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc-nd)
„Okan Bellikli“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc-nd)

Syrien ist kein Einzelfall. Immer öfter entstehen Kriege zwischen Bevölkerungsgruppen. Libyen, Kongo und Tunesin sind nur einige Beispiele von vielen. Diese neuen Kriegsformen lösen die Konflikte des 20. Jahrhunderts ab. Will die UN weiterhin den Frieden sichern, muss auch sie sich weiterentwickeln. Das gelingt nur, wenn das Völkerrecht endlich überarbeitet wird.

Wasser ist keine Ware

Kurzkommentar

Die Wasserversorgung muss in öffentlicher Hand bleiben. Selbst wenn es die Privatisierung nicht gibt, setzt die Europäische Union mit der Wasserrichtlinie ein fragwürdiges Zeichen. Es ist der falsche Weg, einheitliche Regeln für einen privatisierten Markt vorzustellen. Schutz des öffentlichen Gutes, statt Wettbewerb sollte daher auf ihrer Agenda stehen.

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„Manos Radisoglou“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)

Ein privater Anbieter  kann den Versorgungsmarkt weder gerechter gestalten, noch für bessere Wasserqualität sorgen. Höhere Preise, weniger Qualität – die Folgen der Privatisierung zeichnen sich in anderen Ländern schon lange ab. Im einem portugiesischen Ort gelangte die Wasserversorgung 2009 in private Hände. Ein Preisanstieg um 400% folgte. Seither steigt der Wasserpreis jährlich weiter. Auch in Bordeaux und London hat der Markt versagt. Dort nahm die Wasserqualität dramatisch ab, nachdem private Anbieter die Versorgung übernahmen. Um Kosten einzusparen, reparierten die Anbieter marode Rohre nicht. Stattdessen setzten sie giftige Chemikalien zu. Die Beispiele zeigen: Die Öffnung des Trinkwassermarktes geht Hand in Hand mit Marktversagen. Kommunen können solche unerwünschten Effekte nur  verhindern, wenn sie die Kontrolle über das Trinkwasser in ihrer Hand behalten. Das muss die EU unterstützen.

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„Mara Bla“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Wahlkampf auf der Zielgraden

Zu Gast bei Grün und Gelb am Wahlvorabend – von Luisa Meyer und Marie Bornickel

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„Sebastian Wieschowski“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)

Die pseudo-chinesische goldene Winkekatze trägt ein kleines T-Shirt mit der Aufschrift „3 Tage wach“. Unablässig winkt sie den Grünen zu, die um den vollgestopften Tisch herum sitzen und ein wenig apathisch auf ihre Laptoptbildschirme starren. In drei Ecken stehen Kameras und filmen das Geschehen, ein Livestream im Internet sendet 72 Stunden alles, was in dem kleinen Raum passiert. Teller mit Essensresten stehen herum, eine Frau häkelt blitzschnell einen rosafarbenen Schal. Eine Bierkiste steht auf dem Boden.

In der Landeszentrale der Grünen in Hannover-Mitte herrscht aufgeregte Stimmung. 20 politikbegeisterte Jugendliche quetschen sich in den ohnehin schon engen Raum, der ein bisschen die Atmosphäre von einer Studentenbude hat. Nachwuchsreporter der Jungen Presse Niedersachsen, die sich die letzten Vorbereitungen der Grünen ansehen. Nachdem sie einen ganzen Tag lang über Wahlprogrammen gebrütet haben, mit Vorsitzenden der Jugendverbände der Parteien, Politikern und Redakteuren diskutiert haben, recherchieren sie nun vor Ort.

Über 12 Stunden vor Öffnung der Wahllokale in den Wahlkreisen haben die Grünen schon mehr als 3000 Anfragen zur ihrer Landespolitik beantwortet. Fragen wie „Warum fördert ihr nicht den Ausbau der Autobahnstrecken“ oder „Was ist eure Haltung zum bedingungslosen Grundeinkommen“ tauchen auf der Internetseite auf, die Ehrenamtlichen haben alle Hände voll zu tun, mit den Antworten Wähler zu informieren. So kurz vor der Wahl versuchen sie mit dieser Aktion letzte Unentschlossene zu einem Kreuz für ihre Partei zu gewinnen. Ein Jugendlicher sitzt mit seinem winzigen Netbook neben einem älteren Grünen, der allein äußerlich alle Klischees bedient: langer Bart, lange Haare, in der Hand eine Flasche Einbecker.

Bunte Gardinen hängen vor den Fenstern, neben der Winkekatze erinnern Sonnenblumen aus Holz an das Logo der Grünen. Ein Plakat mit einer persönlichen Widmung von Stephan Weil steht in einer Ecke, er war heute kurz zu Besuch. Alle hoffen auf einen Regierungswechsel, auf eine Mehrheit für Rot-Grün

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 Empfohlene Nennung"Jan-Henrik Dobers" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/deed.de
Jan-Henrik Dobers“ / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Am anderen Ende der Stadt füllt sich eine kleine Privatwohnung. Die Schuhe stapeln sich bereits im Hausflur. Im Minutentakt klingeln Gestalten in weißen Kapuzenpullovern, die im Schneetreiben draußen kaum auszumachen sind. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch ein leuchtend gelber Aufdruck ins Auge: Freiheit leben. Auch das andere politische Lager versucht Wählerstimmen zu gewinnen und hat eine kleine Gruppe junger Redakteure eingeladen. Das Konzept ist sehr ähnlich. Die letzten 24 Stunden vor dem alles entscheidenden Abend beantworten auch die Jungen Liberalen, die Jugendorganisation der FDP, Fragen per Livechat. Böse Zungen mögen behaupten, dass die Liberalen dies auch dringend nötig haben, sahen doch die letzten Wahlprognosen die FDP nicht einmal bei sicheren 5-Prozent. Gleich die erste Frage bezieht sich auf ein Kernthema der Partei: „Was tut die FDP gegen die kalte Progression“? „Wer ist hier für Wirtschaft der Experte“, ruft Lasse Becker aus dem Bundesvorstand in den Raum. Schnell ist der Ansprechpartner unter den gut 30 Anwesenden ausgemacht und setzt sich zu Lasse aufs Sofa. Charlotte Winkler, stellvertretene Vorsitzende der Julis in Niedersachsen prüft währenddessen das Kamerabild. Statt drei großen Kameras wie in der Landeszentrale der Grünen tut es hier ein kleines Handgerät. Das sende auch nicht aus einem Bürokomplex, sondern aus einer Privatwohnung. Alles wirkt ein wenig spontan. Es gibt lediglich zwei Stühle und Spitzenkandidat Stefan Birkner lächelt etwas schief vom Wahlplakat an der Wand. „Die Internetverbindung war in der Landeszentrale zu schlecht, da sind wir kurzerhand hier her umgezogen“, erklärt Oliver Olpen, der Landesvorsitzende. „Das ist bei uns so. Wir sind spontan und praktisch veranlagt, wir finden schnell Lösungen“, fügt ein anderer hinzu. Es sind nicht viele Fragen, die die Nachwuchspolitiker beantworten müssen. So bleibt Zeit, auch über andere Themen zu sprechen, wie zum Beispiel der Medienauftritt der öffentlich-rechtlichen Sender. Tatort und Co. für immer im Netz lassen, statt Formate nur für eine Woche freizuschalten fordern die JuLis an diesem Punkt. Nicht nur die Piraten haben das Internet für sich entdeckt. Auch die jungen FDPler werben kräftig in den Sozialen Netzwerken. Neben dem Livebild werden Fotos auf facebook veröffentlicht, Fragen können auch per Twitter an die Gruppe gestellt werden. Beim kommentieren ist aber vor allem eines wichtig – die richtige Rechtschreibung. Das bekommt auch gleich eine junge Liberale zu spüren, in deren Text sich drei Fehler geschlichen haben. Allerdings geht deren Entschuldigung in einem psssst-Konzert unter. Schließlich ist es schon nach 23 Uhr und die Nachbarn haben sich bereits beschwert. „Ihr wollt doch auch, dass wir weiter machen können“, kommentiert Lasse Becker. Ob er damit wohl die Partei oder den Livestream-Abend meint, bleibt offen.

Neunundneunzig Prozent

„We are the 99 percent. We are getting kicked out of our homes. We are forced to choose between groceries and rent. We are denied quality medical care. We are suffering from environmental pollution. We are working long hours for little pay and no rights, if we’re working at all. We are getting nothing while the other 1 percent is getting everything. We are the 99 percent.“ 

"Bettina Kohlert" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc-nd)
"Bettina Kohlert" / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc-nd)

(Wir sind die 99 Prozent. Wir wurden aus unseren Wohungen geworfen. Wir sind dazu gezwungen, zu entscheiden, ob wir die Miete bezahlen oder Lebensmittel kaufen. Uns wird der Zugang zu einem qualitativ hochwertigen Gesundheitssystem versagt. Wir sind diejenigen, die unter der Umweltverschmutzung leiden. Wir arbeiten für eine geringe Bezahlung, niemand garantiert und Arbeitnehmerrechte – falls wir denn überhaupt Arbeit finden. Wir bekommen nichts während 1 Prozent der Bevölkerung alles bekommen. Wir sind die 99 Prozent.)

"Tino Höfert" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)
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Dieses Statement fällt neben einem großen Foto zuerst ins Auge, ruft man die Seite „We are the 99 percent“ auf. Doch was verbirgt sich hinter diesen erschreckenden Aussagen? Liest man ein Stück weiter, wird deutlich: Diese Seite gehört zum „Occupy Wall Street“- Movement. Die Anhänger dieser Bewegung gehen sein mehreren Woche in Amerika für soziale Gerechtigkeit auf die Straße. Die Demonstranten protestieren gegen die Wohlstandsverteilung und die Macht der Banker in den USA. Mittlerweile erhaltgen sie sogar Unterstützung durch einige bekannte Persönlichkeiten. Die Seite der 99 Prozent gibt der Bewegung ein Gesicht. Alle Amerikaner werden aufgefordert, eine Foto einzustellen. Darauf soll die Person selbst und eine Liste ihrer Benachteiligungen zu sehen sein. Die Fotos zeigen, wie düster es um das amerikanische Sozialsystem steht. Amerikaner jeder Altersklasse nehem an der Aktion teil. Man findet den Studenten mit Masterabschluss, der seit 8 Monaten keine Anstellung finde genauso wie die Amerikanerin, die 3 Jobs hat und trotzdem nicht genug zum Leben verdient. Der neuste Beitrag stammt von einem jungen Soldaten:

I CAN’T HANDWRITE THIS NOTE BECAUSE MY DOMINANT HAND WAS DAMAGED IN THE MILITARY. I WAS MEDICALLY RETIRED AS A WOUNDED WARRIOR.

AFTER ONLY 4 YEARS IN THIS ONLY PROVIDES A SMALL INCOME THAT IS BARELY ENOUGH TO COVER MY MORTGAGE AND EAT CHEAP PACKAGES OF NOODLES.

[…] I ALSO HAD TO USE GRANTS TO COVER MY MORTAGE A FEW TIMES WHILE I WAS WAITING A YEAR FOR MY V.A. DISABILITY RATING. I CANNOT USE THOSE GRANTS AGAIN. […]

I WILL NEVER BE ABLE TO AFFORD TO BUY A CAR.

I WILL NEVER BE ABLE TO SAVE ANY MONEY.

I WILL NEVER BE ABLE TO AFFORD TO MOVE FROM THIS HOME.

I WILL NEVER BE ABLE TO TAKE A VACATION.

I WILL NEVER BE ABLE TO SEND MY WIFE TO SCHOOL.

I WILL NEVER BE ABLE TO AFFORD A LOAN.

I WON’T BE ABLE TO REPLACE THE ROOF ON MY HOUSE IN 5 YEARS.

I WON’T BE ABLE TO REPLACE MY 50 YEAR OLD SEPTIC TANK SO WHEN IT CRUMBLES AND FAILS MY HOME WILL BE CONDEMNED ON ACCOUNT OF SEWAGE IN THE BACK YARD.

I WON’T BE ABLE TO AFFORD MY MEDICATIONS AS I GET OLDER.

I WON’T BE ABLE TO EXPERIENCE THE AMERICAN DREAM OF PROSPERITY AND HAPPINESS.

BUT I GUESS I SHOULD LOOK AT THE POSITIVE SIDE: I WON’T BE ABLE TO TELL MY KIDS THAT THEY ARE SCREWED…. BECAUSE I DON’T HAVE ANY.

"fgew wr33" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)
"fgew wr33" / http://www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by)

(Ich kann diese Liste nicht mit der Hand schreiben, weil meine Schreibhand in meiner Arbeit für das Militär verwundet worden ist. Nun bin ich in Frührente, als ein verwundeter Krieger.

Nach vier Jahren im Dienst ist mein Einkommen so klein, dass ich davon gerade mal meine Darlehnshypothek bezahlen kann und mich von günstigen Nudeln ernähre. […] Ich musste meinen Darlehn sogar durch Zuwendungen finanzieren, während ich ein Jahr darauf gewartet habe, als arbeitsunfähig eingestuft zu werden. […]

Ich werde nie die Möglichkeit haben, ein Auto zu kaufen. Ich werde nie dazu in der Lage sein, Geld zu sparen. Ich werde nie die Möglichkeit haben, aus meiner Wohnung wegzuziehen. Ich werde nie Urlaub machen können. Ich werde meiner Frau nicht ermöglichen können, die Schule zu besuchen. Ich werde nie einen Bankkredit bewilligt bekommen. Ich kann das Dach unseres Hause in 5 Jahren nicht erneuern. Ich kann meinen 50 Jahre alten Abwassertank nicht ersetzen. Wenn er kaputt geht, gelangt das Abwasser in meinen Hinterhof. Ich kann mir keine medizinische Versorgung im alter Leisten. Ich werde nie den amerikanischen Traum, der Zufriedenheit und Wohlstand besitzt, leben können.

Vielleicht sollte ich auf die positiven Dinge schauen: Ich muss meinen Kindern nicht erzählen, dass sie abgezockt werden – ich werde keine Kinder bekommen.)

Weiter Infos unter:

OCCUPYWALLSTREET.ORG

Jugendpressekonferenz ohne Ministerin

Conne Island / Flickr
Conne Island / Flickr

Eigentlich sollt hier ein Artikel über die Niedersächsische Familienministerin Aygül Özkan zu lesen sein. Es sollte um den Ehec-Erreger gehen und um eventuelle Versäumnisse der Politik. Um Integration und Chancen für Ausländer. Groß wurde die Jugendpressekonferenz angekündigt, etwa 40 Jungjournalisten haben sich gemeldet, da fällt die Konferenz aus. Die Ministerin sei in einer Sitzung, die an diesem Tag länger dauern würde, heißt es. Nach hinten verschieben kann man den Termin auch nicht. Was also schreiben? Ein Lebenslauf der Ministerin? Ein Kommentar zu ihrer momentan eher zurückhaltenden Politik? Wahrscheinlich kann man es so formulieren: Die Ministerin hat besseres zu tun, als sich um den journalistischen und politisch interessierten Nachwuchs zu kümmern.